Neue Helden

Wie eine Männerfreundschaft einen Aargauer Provinzverein prägt
Text und multimediale Umsetzung: Larissa Gassmann

Matteo Fruci und Benjamin Netz sind beide Fans des FC Wohlen. Der eine von Kindsbeinen an, der andere seit seinem Umzug von Deutschland in die Schweiz. Warum beide nicht ohne den Verein können und wie eine Männerfreundschaft eine Hinrunde zwischen Skandal, Hoffnung und Resignation überdauert.

Manchmal liegen zwischen Glück und Leid bloss wenige Zentimeter.

Nur wer Fan eines gelegentlich miserablen Vereins ist, kann das auf schmerzvolle Art und Weise nachvollziehen. Auf einmal aber steckt Benjamins Kopf zwischen Matteos Händen. Und auf einmal, niemand mag sich später daran erinnern, wie es passiert ist, verhaken sich ihre Beine, stolpern die beiden übereinander. Nun liegen sie da im Gras. Matteos Hand links, Matteos Hand rechts von Benjamins Kopf. Als wolle er das Glück aus ihm herauspressen.

Auf diesen Moment gewartet haben Matteo und Benjamin 91 Minuten lang. Gewartet, bis Wohlens Stürmer Luiyi Lugo von der rechten Strafraumecke bis kurz vor das Tor zieht. Gewartet, bis Lugos Fuss den Ball berührt. Bis der Ball die Luft durchschneidet und fliegt, immer weiter fliegt, bis er nur noch von einem grossmaschigen Stück Stoff gestoppt wird.

Bis kein Zentimeter mehr fehlt.

«Immer verlieren wir gegen solche Drecksmannschaften», hat Benjamin irgendwann zuvor gesagt. Bevor er gegen die Bande getreten hat. Dann, als Matteo Zigarette um Zigarette gedreht hat. Rauchen hat man ihn nie gesehen, aber gedreht hat er. Und schweigsam war er damals noch, nicht so emotional wie Benjamin. Kontrollierter.

Aber nun liegen beide da, aufeinandergestapelt. Benjamin, der Deutsche, der den FC Wohlen gerade mal seit siebeneinhalb Jahren liebt. Matteo, der seit Kindheit an nichts anderes mehr denken kann. Dabei sind es bloss drei Punkte gegen Buochs.

Wachstumsschmerzen

Im August ist all das weit weg. Benjamin (33) und Matteo (23) stehen während dem Testspiel gegen Linth auf der Tribüne in den Niedermatten. Zwei Freunde, ein bisschen Anhang. Während 35 Grad auf Wellblech und Beton knallen, hüllt eine schwere Mischung aus Bier und Schweiss die Tribüne ein.

Knapp 300 Zuschauer sehen jeweils zu, wenn die Tore von Davide Giampà oder Luigi Milicaj fallen. Als der Aarauer Goran Antic im Stadion Niedermatten einst höher als alle durch die Luft flog und per Kopf in der 71. Spielminute einnickte, waren 4’450 Personen vor Ort. Neun Jahre sind seither vergangen.

So sahen die Spieltage im Stadion Niedermatten einst aus (Quelle: FcAfAn1998/YouTube):

Heute verirren sich hierher bloss Rentner, die es seit Jahren nicht besser wissen. Junioren, die sich die Zeit zwischen Training und Heimweg irgendwie vertreiben müssen. Spielerfrauen, die sich mal mehr, mal weniger für das Geschehen auf dem Platz interessieren. Und Benjamin und Matteo.

Das hier sollte ursprünglich eine Geschichte über den FC Wohlen und seine Bedeutung für die Fanszene werden. Die erklären sollte, warum Menschen bei Wind, Regen, Schnee und Hitze Samstag für Samstag einen unterklassigen Verein unterstützen. Aber eigentlich ist es ihre Geschichte.

Weil nichts in diesem Verein in der tiefsten Aargauer Provinz so sehr lebt wie Matteo und Benjamin. Und gerade deshalb, wegen all dieser überbordenden Lebendigkeit, ist es eine Geschichte, die nicht nur von Glück, Toren und Erfolg erzählt. Benjamin und Matteo haben sich in einen Verein verliebt. Bis es kompliziert wurde.

Echte Liebe

Als Benjamin Wohlen kennenlernte, war alles leicht. Denn dass er Wohlen überhaupt kennengelernt hat, liegt an Anita. An seiner echten Liebe. Wegen ihr ist er vor siebeneinhalb Jahren in die Schweiz gezogen. Montagabend war es, als Benjamin endgültig sein Herz an Wohlen verloren hat. 4:2 hat der Verein damals gegen Servette gewonnen.

«Es hat gepisst wie Sau», sagt Benjamin nur. Und vielleicht passte dieses Wetter ganz gut zu einem Deutschen, der in der Schweiz Anschluss suchte. Ausserdem war da dieses «Urchige», wie Benjamin sagt. Dieser «Profiverein mit dem Flair eines Dorfklubs». Jeder kannte jeden. Und bald sollte jeder Benjamin kennen.

Schuld daran ist nur er selbst. Benjamin kann unfassbar nervig sein. Vor Spieltagen verschickt er zig Nachrichten an die anderen Fans. Wie ein Pfarrer, der seine Schäfchen mobilisiert.

Fast immer, wenn Benjamin über Wohlen spricht, spricht er über die Zukunft. Davon, dass er die Fanszene vergrössern will. Dass sich alles ändern muss. Dabei ist alles ein bisschen komplizierter geworden, seit sich der Verein vor vier Jahren freiwillig aus dem Profifussball zurückgezogen hat.

Künstlerpech

Als Matteo Wohlen kennenlernte, war alles leicht. Damals, in der Challenge League, als die Gegner noch nicht Buochs oder Zug hiessen. Samstag für Samstag war das ganze Dorf auf den Beinen. Überall hingen Flaggen. Mit Schals behangene Menschen strömten ins Stadion.

Spieltage haben geklungen. Nach den gegnerischen Fans, nach Chiasso und Aarau. Spieltage haben gerochen. Nach Bratwurst und Zigarren, die einem von Weitem den Weg ins Stadion wiesen. «Fussballgeschmack», nennt Matteo das.

Sein Blick schweift über die Tribüne. Als würde er irgendwo nach all dem suchen. Heute hat das Stadion Niedermatten alles absorbiert.

Wohlen findet nur noch auf ein paar wenigen Quadratmetern statt.

«Es tut schon ein bisschen weh», sagt Matteo. «Am bittersten ist, dass die Basis weggebrochen ist.»

Teil dieser Basis ist Matteo seit seinem fünften Lebensjahr. Seine Grossmutter war es, die ihn zum ersten Mal ins Stadion mitnahm. «Danach kam immer wieder irgendjemand auf die Idee, Wohlen zu besuchen», sagt Matteo. «Und meistens war das ich.»

Via Teletext hat er sich die Spieldaten rausgesucht, verpasst hat er selten eines. «Ich weiss», sagt Matteo, «ich blicke verklärt auf diese Zeit zurück.» Irgendwo im Trubel der immer wichtiger werdenden Challenge League hat der Verein den Bezug zu den Menschen verloren. «Irgendwann hat man nur noch darauf geachtet, im Profifussball zu überleben», sagt Matteo.

Nach dem Testspiel gegen Linth sitzt er in seinem Elternhaus am Holztisch und zeichnet einen Wohlen-Schriftzug auf ein weisses Stück Stoff:

An der Wand hängt Jesus am Kreuz, an den Fenstern Spitzenvorhänge. Auf dem Tisch liegt die noch weisse Fahne. Später wird sie reisen, nach Buochs und Köniz, nach Luzern und Münsingen. Sie wird Risse bekommen, Flecken, sie wird geliebt werden.

Noch aber sitzt Matteo da, vermischt Blau mit Blau. Bis das Wohler Blau entsteht, in das Benjamin und er die Fahne tauchen. «Maltherapie» nennen sie das. Der Zeiger an der Uhr kriecht weiter und weiter voran, irgendwann malt nur noch Matteo. Es ist halb elf Uhr. In einer Woche wird es ernst. Nur jetzt noch nicht.

Jungs und Mädchen

Wenn Benjamin als Busfahrer durch Dagmersellen fährt, durch Hochdorf und Sursee, wenn mitten in der Nacht ein Kaff dem anderen gleicht, dann schläft seine Verlobte Anita bereits. Unter der Woche sehen sich die beiden selten. Und am Wochenende kommt der Fussball dazwischen.

Fussballfan ist Anita nicht, aber an Benjamins erstem Wohlen-Spiel gegen Sarmenstorf, da war auch sie dabei. Als Wohlen sieben Jahre später daheim auf Delémont trifft und wir an der Sportanlage in Sarmenstorf vorbeirauschen, kramt sie auf dem Handy ein Bild von damals hervor.

«Lösch das», sagt Benjamin. Aber Anita tut alles andere als das.

«Ich weiss noch genau, was du damals getragen hast», sagt sie. «Dass ich dir damals eine Wurst bezahlt habe.»

«Dass du den Dulli überhaupt mitgenommen hast», sagt Benjamin dann nur.

Auch wenn Fussball ihr fremd ist: Heute kennt Anita jeden, der in Wohlen ein und aus geht. Mit all seinen Schwächen und Macken. Das ganze Drama. Dabei ist sie selbst kaum vor Ort. Das muss sie auch nicht. «Wenn Beni etwas erzählt, kommen zuerst alle Infos rund um den Fussball», sagt sie. «Und dann der Rest.»

Eintauschen will sie ihn trotzdem nicht, die beiden werden im nächsten Sommer heiraten. Und Matteo wird Trauzeuge sein. Selbstverständlich. Beni ist halt Beni.

So war er auch, als Anita ihn ihren Freundinnen vorgestellt hat. Kaum betrat Benjamin die Beiz irgendwo im Luzerner Hinterland, spuckte ihm ein Stammgast vor die Füsse. Anita hätte doch jeden haben können, sagte er. Nicht so einen Drecksausländer.

Benjamin spuckte zurück. «Ich habe halt gedacht, dass man das in der Schweiz zur Begrüssung macht», sagt er mit einem Schulterzucken. Auch in Wohlen sollte er wieder Menschen vor den Kopf stossen. Wenn er in das Leben anderer tritt, tut er dies mit einem Knall. Und wenn er geht, ist es ebenso.

Männerfreundschaft

Einst sahen sich Benjamin und Matteo bloss an den Wochenenden in Wohlen. Doch als Matteo alt genug war, gingen sie Groundhoppen, zogen sie gemeinsam durch Europas Stadien. Mitternächtliche Autopannen in Tschechien und Kotzereien auf Belgiens Autobahn schweissten zusammen. «Beni ist wie mein grosser Bruder für mich», sagt Matteo. «Eigentlich ist Meo fast wie mein Kind», sagt Benjamin.

Der zehn Jahre jüngere Matteo hat viel von ihm übernommen. Etwa die politische Einstellung. «Ich weiss nicht, wie mein Leben ohne Beni verlaufen wäre», sagt Matteo. «Eigentlich will ich es auch überhaupt nicht wissen.»

Einmal, da steckte Matteo nach einer Panne mitten in der Nacht im Tessin fest. Noch um zwei Uhr wollte sich Benjamin ins Auto setzen, um ihn abzuholen. Wir machen alles füreinander, sagt Matteo. «Ich hatte noch nie eine derart starke Bindung zu einem Menschen wie zu Beni.»

Auch Benjamin hat von Matteo gelernt. «Meo ist viel diplomatischer», sagt Benjamin. Bei ihm selbst gibt es immer nur die Dampfhammermethode. Vielleicht können sie gerade deswegen so schlecht ohne einander existieren. Ich stürme immer, sagt Benjamin. Und Matteo ist zu ruhig. «Wenn wir etwas alleine machen würden, käme nur Quatsch raus. Oder alle würden sich immer nur aufregen.»

Gerade deswegen hauen sie derart oft gemeinsam auf den Tisch. Wenn es um Rassismus geht, um Sexismus oder Homophobie. So war es auch, als es um Rasched ging, den Geflüchteten aus Bangladesch, der irgendwann abgeschoben wurde.

Zuvor war er Mädchen für alles beim FC Wohlen, war er Fan und Freund. «Sein Gesicht beim Abschied werde ich nie vergessen», sagt Benjamin. «Diese Ungerechtigkeit habe ich bis heute nicht akzeptiert.»

Das Leid der Hooligans

«Was man weiss und doch nicht kennt»: So lautet der Titel einer Kinderserie, die bis 1985 im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde. Ähnlich verhält es sich mit Fussballfans. Sie sind Söhne, Väter, Brüder, sind Töchter, Mütter, Schwestern.

Und manchmal, da sind sie schrecklich unbequem. Nicht nur wenn es um die vermeintlich grossen Dinge wie Katar, Doping oder Financial Fairplay geht. Weil Fussball nicht nur Spass, Unterhaltung und Hobby ist. Weil er überhaupt nicht apolitisch sein kann.

Nur wenn der Letzigrund wieder einmal in Flammen steht, wenn Basel fällt und YB brennt, dann vergessen wir das. Dass Fans doch nur Menschen sind, die in ihrem Elternhaus Fahnen basteln. An der Wand hängt Jesus am Kreuz, an den Fenster Spitzenvorhänge. «Was man kennt und doch nicht weiss.»

Die SVP-Jungs

An gewissen Tagen passt in Wohlen einfach nichts. Nicht das Gastrokonzept. Nicht die politische Einstellung. Nicht das Sportliche. «Warum stehen wir immer wieder hier, obwohl uns doch alles nervt?», wird Benjamin dann gefragt. Dabei ist vielleicht genau das die Antwort. Es wäre nicht dasselbe, wenn da nur Freude, Titel und Pokale wären. Und sowieso. «90 Minuten lang schaust du zu und vergisst alles», sagt Benjamin am Anfang der Saison. Nicht wissend, dass ihm irgendwo zwischen Bassecourt und Köniz alles um die Ohren fliegt.

Mitte September erwarten zwei SVP-Plakate die Fans am Stadioneingang. Während des Spitzenspiels gegen Bassecourt gastiert die Partei auf Einladung der Vereinsführung im Stadion. Und alle denken sie wieder an Rasched, den Geflüchteten aus Bangladesch.

Wie viele Protestplakate von Seiten der Fans auftauchen, ist im Nachgang kaum zu eruieren. Sind es fünf, sind es zehn? Auf ihnen stehen Dinge wie «SVP raus» und «SVP not welcome». Erst in Wohlen, dann in Köniz. Und dann wieder in Wohlen.

Als Solothurn im Stadion Niedermatten spielt, ist die Truppe auf der Tribüne so gross wie lange nicht. Auf dem Platz aber wird Wohlen verlieren. Und neben dem Platz liefern sich Fans und Vereinsangestellte ein Katz-und-Maus-Spiel. Jedes einzelne Protestplakat wird nach und verschwinden.

Nur die «Alerta Alerta Antifascista»-Rufe der Fans lassen sich nicht so leicht entfernen:

User 118331610 · Fangesang FC Wohlen

Auf jeden einzelnen davon folgen zwei schräge Blicke mehr von Seiten der Alteingesessenen. Vielleicht hätte man da spüren müssen, dass die Fans die Ruhe auf der Tribüne stören. Und doch folgt die Quittung erst Tage später. Zuerst sind es bloss Vereinsmitglieder, die via Whatsapp und in persönlichen Gesprächen Kritik am Vorgehen der Fans üben. Dann folgen Leserbriefe in der Zeitung, ganze Artikel.

Ein paar Zentimer Stoff erregen die Gemüter.

Benjamin, angestellt als Fanverantwortlicher und Social Media Manager, bekommt alles ab. Und Matteo, der mit seiner Freundin Dorka in den Ferien in Ungarn ist, nichts mit. Aber eigentlich ist sowieso klar, wem welches Schicksal zuteil wird.

Treffen wird es Benjamin, den Störfaktor. Nicht Matteo, den Besonnenen. Benjamin wird entlassen, Matteo behält seinen Job als Stadionspeaker. Man könnte meinen, er habe seinen besten Freund verraten. Doch hinter den Kulissen hat Matteo für eine Entschuldigung von Seiten der Verantwortlichen gekämpft. Er wird noch immer Benjamins Trauzeuge bleiben. Selbstverständlich.

Die (Un)vernünftigen

Tausendfach wurde über das Fan-Sein schon geschrieben. «Du suchst dir nicht deinen Verein aus, sondern dein Verein sucht sich dich aus», sagt Nick Hornby in Fever Pitch. Als liesse sich damit erklären, warum Menschen immer wieder nach Vaduz fahren, nach Yverdon oder Wil. Stundenlang. Zum Verlieren nach Bern, zum Langweilen nach Thun, zum Ärgern nach Sion.

Dass Wohlen nach dem SVP-Vorfall immer noch ein Teil von Benjamin und Matteo ist, liegt an ihrem Willen, hier tatsächlich etwas bewirken zu wollen. «Vielleicht kann man nicht die ganze Welt verändern. Dafür aber den eigenen Mikrokosmos», sagt Benjamin noch Wochen später.

Beide haben von Anfang an Verantwortung für ihren Verein übernommen. Das war eine bewusste Entscheidung. Eine, die vielleicht nicht immer von Logik geprägt war. Aber kann man vernünftig denkenden Menschen überhaupt näherbringen, warum eine 1:3-Niederlage wichtiger ist als Weihnachten und Ostern zusammen?

Seit Matteo ein Teil von Wohlen wurde, hat er kaum ein Spiel verpasst. Nicht einmal wenn seine Mutter Geburtstag hatte. Dorka hat er von Anfang an erklärt, «dass die Samstage verplant sind». Das habe sich einfach so in seinem Leben verankert. «Seit ich denken kann stehe ich hier», sagt Matteo. «Nie hatte ich das Gefühl, etwas zu verpassen.» Im Gegenteil.

Würdest du ebenfalls zu Wohlen passen? Finde es heraus:

Auch bei Benjamin steht Wohlen über allem. «Es wurde irgendwann zum Tick. Wenn ich ein Match verpasse, geht es mir nicht gut», sagt er. Es ist der Kontrollverlust, der beide fuchst.

Vor drei Jahren, Wohlen spielte vor dem Abstieg aus der Promotion League zum letzten Mal gegen Yverdon, befand sich Benjamin auf dem Mittelmeer. Seine Eltern hatten ihn und Anita zu einer Kreuzfahrt eingeladen. Und Benjamin, nervös wie er war, versuchte im Nirgendwo das Spiel via Stream zu verfolgen. Nervlich habe ihn das fertiggemacht. «Das ich nicht da war, das war schlimm für mich», sagt Benjamin.

Fremdgehen

Den FC Wohlen nicht zu lieben, das hat Matteo sowieso längst probiert. Nach und nach verschwanden die anderen Freunde aus der Kurve nach Zürich, Basel oder Aarau. Mit 13 oder 14 gibt man ungern zu, dass man einen Verein wie den FC Wohlen liebt.

Also stand Matteo im Aarauer Brügglifeld und fühlte sich ein bisschen verloren. «Ich habe es wirklich probiert», sagt er. «Aber alles war mir fremd.» Nur wenn er in Wohlen im Stadion ist, da verspürt er diese «wohlige Wärme, die mich umhüllt». Als wäre er in seiner eigenen Stube. «Wieso soll ich woanders hin, wenn ich mich doch hier daheim fühle?», sagt Matteo.

Diese Stadien haben Matteo und der FCW in der Hinrunde besucht (Quelle Bilder: Benjamin Netz):

Bloss manchmal geht er mit seinem Onkel oder Benjamin zu Inter Mailand. «Aber nur, wenn Wohlen nicht spielt.» Dann sieht er sich die alles überstrahlenden Stars an. Arturo Vidal, Ivan Perisic, Edin Dzeko. Kauft ein überteuertes Trikot im Fanshop und fährt wieder heim.

Wohlen aber ist mehr als ein kurzes Märchen oder eine Flucht aus dem Alltag. Wohlen ist der Alltag. Vom Platzwart bis zum Vereinspräsidenten kennt Matteo jeden. «Nur hier kann ich mich einbringen», sagt er.

Seit über vier Jahren ist Matteo nun schon Stadionsprecher, einst stand er selbst auf dem Platz. Vor etwa fünf Jahren hat er mit Benjamin und den anderen Fans eine Holztribüne für die Fankurve gebaut. «All das sind Beweise, dass wir hier waren.»

Kannst du mich im Fernsehen sehen?

Benjamin hat eine Strahlkraft, in dieser Saison ist sie noch grösser als sonst. Im September redet er bei «Sykora Gisler – Der Fussball-Talk» viel über sich und ein bisschen über Wohlen. Das Interview kommt an, auch ausserhalb der Wohlen-Bubble.

Immer und immer wieder erzählt er auf diversen Plattformen aus seinem Leben. Dass Wohlen «ein Profiverein mit dem Flair eines Dorfklubs» ist. Dass sein erstes Wohlen-Spiel gegen Servette stattfand und es geregnet hat. Dabei war das doch eigentlich in Sarmensdorf. Man mag es schon kaum mehr hören. Aber weghören kann man auch nicht.

Als das Team im Herbst gegen die zweite Mannschaft von GC spielt, stehen neben Benjamin zwei Neulinge. Dass sie hier sind, liegt daran, dass Benjamin auf Twitter dazu aufgerufen hat, ins Stadion zu kommen. Aber warum sie wirklich hier sind, weiss keiner so genau.

So füllt sich das Stadion an einem Spieltag (Zeitraffer):

Wohlen wird an diesem Nachmittag fünf Tore schiessen. Bei jedem Tor wird sich Dumenig, eigentlich eher Eishockeyfan, strahlend auf die Brust klopfen. Julian wird lachend daneben stehen und gegen Delémont wieder in der Niedermatten auftauchen.

Ihm gleichtun werden es vier Groundhopper aus Deutschland. Auch sie kennt Benjamin von Twitter. Als blaue Papierschlangen auf der Tribüne durch die Luft wirbeln, scharen sich um die fünfundzwanzig Personen um ihn. Wie um einen Pfarrer, der seine Schäfchen mobilisieren konnte. «Endlich kommen die Menschen. Das habe ich mir gewünscht», sagt Benjamin auf dem Heimweg, bevor die Dunkelheit sein Auto verschluckt.

Winter

Knapp vier Wochen vor Weihnachten bestreitet Wohlen das letzte Spiel der Hinrunde. Wenige Tage nach dem ersten gefallenen Schnee sind nur noch wenige vor Ort in Zug. Benjamin, die gute Seele. Matteo, der Künstler. Linus, die Labertasche. Michi, der Mitleidende. Sebastian, der Weltverbesserer. Und über all dem der Verein, der noch immer nicht genau zu wissen scheint, wie er mit diesem Haufen Freaks umgehen soll, nach denen er nie gefragt hat.

Unerbittlich frisst sich die Kälte durch Jacken, Pullover und Unterhemden. Vom Sommer ist nichts geblieben. Wohlen ist mittlerweile Tabellenerster und spielt doch wie ein Abstiegskandidat.

Wie Wohlen sich in der Hinrunde den ersten Platz geholt hat:

Wieder und wieder werden mit eiskalten Fingern Smartphones aus der Tasche gezogen. Wie schlägt sich Höngg? Was macht Delémont? Nur Benjamin und Matteo sind ganz ruhig.

Ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen die drei knapp dreizehnjährigen «Hopp-Wohlen-Jungs», wie Benjamin sie nennt. Das ganze halbe Jahr lang sind sie dem Verein nachgereist. Wenn Benjamin und Matteo ihr «Yalla FC Wohlen» durch die Stadien peitschen, tun sie es ihnen gleich. Und nun stehen sie da, mit ihrer kleinen «Hopp FC Wohlen»- Fahne.

90 Minuten lang trennen nur wenige Zentimer Gegenwart und Zukunft.

In dieser wird es vielleicht nie wieder ein Chiasso oder Aarau geben. Als Wohlen vor drei Jahren aus der Promotion League abstieg, sei es für ihn zuerst «mega verwirrend» gewesen, den Verein im Amateurbereich zu sehen, sagt Matteo. «Jetzt fährst du nach Goldau, stehst neben einem Scheissplatz ohne Tribüne. Und hast trotzdem eine gute Zeit.»

Erfolg ist Matteo nicht egal. Aber grösser als die Promotion League träumt er nicht. Die Challenge League ist mittlerweile kein Sehnsuchtsort mehr. «Dann wird es nur wieder mühsam», sagt Matteo. Und überhaupt. Weit weg vom Kommerz kennt Liebe keine Liga. «Der Verein sind die Menschen», sagt Benjamin. Und solange die da sind, solange es Matteo und all die anderen gibt, ist alles in Ordnung in der tiefsten Aargauer Provinz. Vielleicht wird Wohlen aufsteigen. Vielleicht wird Wohlen scheitern. Vielleicht ist es einerlei.

Noch nicht genug von Wohlen? Hier sind alle Resultate, Sprüche des Tages und weitere Facts: